Konstruktivismus – Lösungsfokussierung – Systemische Sichtweise
(Meine) Grundannahmen bezüglich gelungener Beratung und Therapie
Konstruktivismus / sozialer Konstruktionismus / Buddhismus
Meine Grundannahme über die menschliche Wahrnehmung ist, dass alle Informationen die das Gehirn über seine Sinnesorgane aufnimmt, dort sinngebend konstruiert werden. Das heißt, den wahrgenommenen Dingen wird eine Bedeutung gegeben (mir gefällt der Begriff „Wahrgebung“ statt Wahrnehmung hierfür sehr gut). Dieser Konstruktionsprozess ist – vermutlich – geprägt aus Vorerfahrungen, Auswahlentscheidungen und Gewohnheiten (Mustern). Durch dieses gewohnheitsgemäße konstruieren, schon von frühester Kindheit an (wahrscheinlich schon im Mutterbauch) entsteht ein Identitätsgefühl. “Identität” kann als die üblicherweise genutzten Verhaltens- und Konstruktionsprozesse, über die ein Mensch sich definiert, beschrieben werden. Denn: Wenn letztlich alles möglich wäre – jede Sichtweise, jedes Verhalten – könnte kein stabiles „Ich-Gefühl“ entstehen.
Dieses „Ich-Gefühl“ ist gleichzeitig verantwortlich für die Trennung des menschlichen Bewusstseins von „allem-was-ist“, der Ganzheit. Im Buddhismus – einer konstruktivistischen Philosophie – besteht das größte Ziel darin, das Ego zu überwinden und eins zu werden mit „allem-was-ist“. Dem Ego werden u.a. Eigenschaften wie Anhaftung an Meinungen und Vorlieben, Egoismus und Gier zugeschrieben.
Wenn nun jede Beobachtung, jede Reaktion, jeder Gedanke, jedes Verhalten, jedes Wissen eine Konstruktionsleistung ist – eine Möglichkeit von vielen anderen – müsste ich jetzt hier enden, denn es gibt nichts mehr hinzuzufügen. Denn jedes: Ich sehe es eher so und nicht so… diese Theorie ist aber diese Meinung… hierfür gibt es folgende Belege/Beweise… so macht es aber viel mehr Sinn… ist letztendlich „nur“ das Ergebnis eines Konstruktionsprozesses.
Der Konstruktivismus ist somit eine sehr „einsame“ Konstruktion. Wenn jede/r seine eigene Wirklichkeit konstruiert, wie ist dann der Kontakt zu anderen Menschen möglich? Hier bietet der soziale Konstruktionismus eine wesentliche Ergänzung: „Wirklichkeit“ zu konstruieren wird unterstützt durch die Zugehörigkeit zu menschlichen Gruppierungen (Der Familie, dem Land in dem man lebt, der Religion an die dort geglaubt wird etc.). Daraus erklärt sich für mich sehr stimmig, weshalb der Anschluss an die Glaubenssysteme der maßgeblichen sozialen Bezugspersonen so wichtig ist. Hierin besteht aber auch die große Gefahr der Menschheit: Dass diese „Gruppenkonstruktionen“ nicht als eine von vielen möglichen Wirklichkeiten gesehen wird, sondern als Wahrheit. Wahrheit um deren Richtigkeit auch gestritten oder gekämpft, ja getötet wird.
Diese Gedanken konsequent zu Ende gedacht, bzw. konstruiert führen bei mir dazu, dass jede Theorie, jede Wissenschaft, jede Religion, jeder menschliche Wert, jede Überzeugung und jede Meinung ein, nun ja, Konstruktionsprozess ist. Der Austausch mit anderen Personen, die Meinungen und Sichtweisen konstruieren ist somit meist spannend, aber die sich häufig einschleichenden Gedanken, dass die eigene Meinung/ Sichtweise letztlich doch die richtig ist, ist dabei wenig förderlich. Wenn es ein Kriterium geben sollte, dann aus meiner Sicht: Passt die Sichtweise, bzw. ist sie förderlich für die Anforderungen der Umweltbedingungen (siehe „systemische Sichtweise“ weiter unten)? Auch hierfür dürft es keine objektiven Kriterien geben, sondern bestenfalls die Stimmigkeit für die betreffende(n) Person(en).
Für Beratung und Therapie bedeutet dies: Wie kann es einem/ einer Berater/in gelingen, Menschen zu unterstützen, die eine Herausforderung bewältigen wollen? Wesentlich dürfte hierfür ein gemeinsamer (Neu-)Konstruktionsprozess sein. Ein Andocken des Beraters an seinem Gegenüber, ein Interesse für dessen Sichtweisen und Bedeutungsgebungen. Darauf folgend das gemeinsame Erarbeiten von neuen Sichtweisen und Bedeutungsgebungen, sowie der Übertrag in die Alltagssituationen der Person unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Außenwelt.
Wichtig ist hierbei, die Zurückhaltung des/der Berater/in bezüglich Expertentipps. Da jeder Mensch anders ist, sieht auch jede Lösung (Lösung = gelungene Neukonstruktion mit Übertrag in den Alltag) individuell aus. Der/die Berater/in hat die Fähigkeit und das Wissen Lösungsprozesse zu aktivieren, nicht aber die Lösung selbst zu kennen. Insoo Kim Berg nennt dies die „Haltung des Nicht-Wissens“.
Lösungsfokussierung
Mich persönlich haben die pragmatischen und effektiven Vorgehensweisen des lösungsfokussierten Ansatzes (nach Steve DeShazer/Insoo Kim Berg) sehr geprägt, in dem nicht auf die Re-Konstruktion des Problems fokussiert wird, sondern auf die Neu-Fokussierung für Lösungsprozesse. Wenn dies einhergeht mit Leichtigkeit, Kreativität und angemessener Irritation wird diese Neu-Fokussierung unterstützt.
„Problemtrance“ verstehe ich in diesem Zusammenhang so, dass es ein Zustand ist, in dem ein Mensch in seinen Gedanken und Emotionen auf ein von ihm konstruiertes Problem fokussiert. Dies geht einher mit körperlichen Reaktionen (Körperspannung, Atmung, Haltung etc). Diesen Zustand in einer Beratung zu aktivieren kann die Gefahr mit sich bringen, diesen Zustand weiter zu etablieren.
„Lösungstrance“ dagegen ist der Zustand der inneren Stärke und Zuversicht. Auch dies geht einher mit körperlichen Reaktionen, die wiederum Einfluss auf das Denken und Fühlen haben. Diesen Zustand zu aktivieren und ihn als Ressource für die erwünschte Lösung zu nutzen, sehe ich als Hauptaufgabe eines/r lösungsfokussierten Berater/in. Dies ist aus meiner Sicht gut zu erreichen aus der Verbindung der klassischen lösungsfokussierten Schule (die meiner Einschätzung nach eher kognitiv ist) und der Körperwahrnehmung (wie sie z.B. im Ansatz des Embodiment) beschrieben werden.
Systemische Sichtweise
Nach dem Konstruktivismus und dem lösungsfokussierten Vorgehens kommt in meiner Bedeutungsgebung als dritte wichtige Größe die systemische Sichtweise. Wobei „systemische Sichtweise“ schon wieder eine große Zahl von Konstruktionsmöglichkeiten ermöglicht. In meiner Konstruktion bedeutet systemisch vor allem: In Wechselwirkungen, Dynamiken und Zusammenhängen zu denken und handeln. Nichts ist an sich wie es ist, sondern alles ist, wie es ist, weil es in Beziehung zu anderen Dingen steht. Aus dem Buddhismus gibt es hierzu einen schönen Satz: „Alles entsteht und vergeht in wechselseitiger Abhängigkeit“
Auf menschliches Erleben und Beziehungen bezogen heißt dies: Kein Mensch verhält sich, wie er sich verhält, ohne dabei Bezug auf seine Umwelt zu nehmen. In Beziehungen (sei es Familie, Beziehung, Freundschaft, Arbeitskontexte) entstehen aus aufeinander bezogene Verhaltensweisen üblicherweise Muster, die ein Verhalten stabilisieren. Wenn es sich dabei um als ungünstig eingeschätzte Muster hält, ist eine Veränderung nicht leicht, denn jedes Muster – auch ein destruktives – gibt Sicherheit.
Bezogen auf Beratung und Therapie bedeutet dies, dass auf Wechselwirkungen, Beziehungen und Dynamiken fokussiert wird – und weniger auf das Verhalten der Person(en) selbst. Hierzu sind reflektierende und zirkuläre Fragen sinnvolle methodische Mittel und das Beschreiben dieser Prozesse in Form von „Mustern“. Ziel könnte dann das Ausprobieren von neuen – als günstiger eingeschätzten – Verhaltensweisen sein, die dann idealer weise zu neuen Mustern führen können.